Unverhofft mit 2 Tagen Quarantäne aufgrund eines falsch-positiven Schnelltests beschenkt, landete ich in diesem Buch:
„Alles was wir nicht erinnern. Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters.“ von Christiane Hoffmann, 2022, C.H. Beck ISBN 9783406784934
… und wanderte mit der ehemaligen Moskau-Korrespondentin der FAZ, Christiane Hoffmann, und zwar zu Fuß. So schreibt sie immer wieder: „Zu Fuß? Zu Fuß. Allein? Allein.“ Die ganzen 550 km Fluchtweg wandert die 1967 Geborene heute nach, den ihr Vater, damals 9 Jahre alt, 1945 mit seiner Familie gegangen war. Von Schlesien nach Deutschland.
Sie ist allein und doch nicht allein. Denn wir wandern ja mit. Und ihre Schreibfeder wandert mit. Und die Figuren, die sie erfindet, wie auch die Erinnerungen, die sie herausholt, zusammenbeschwört. Den 9-jährigen Jungen, der immer wieder des Wegs kommt und mit dem sie das Brot teilt. Notizen der Tante Gerda, die mit im Treck war und jeden Ort beschrieben hat und dann tauchen auch immer wieder reale Menschen auf aus dem Heute. Die sie willkommen heißen, die ihr Nachtlager geben, die ihre Geschichten erzählen, die nicht über Politik reden wollen und dann doch politisieren. Manchmal gegen Russland, manchmal gegen Juden und nie gegen Deutschland. Vielleicht der Zuhörerin zuliebe. Man erfährt, dass Vertreibung der einen durch Vertreibung der anderen bedingt war. Dass jede und jeder seine Heimat verloren hat, dass es sie hier für keinen mehr gibt so recht, wenn ein Krieg alle Grenzen verschoben hat und hernach umgesiedelt wurde auf den Landkarten der Politiker.
Wir wandern mit und merken, wie die Hoffnung mit jedem Schritt weniger wird. Ist man erst wohl nur für drei Tage fort, man will ja die Kühe noch einmal melken, verliert man auf dem Weg den lahmen Onkel, dann die altersschwache Oma und am Ende die Hoffnung. Danach hat der Junge nur noch die Mutter, die unter Tage arbeiten geht.
Der Junge wird sich nie mehr erinnern an die Zeit davor. Ein Radiergummi löscht alles aus. Der Radiergummi des Traumas.
Die Tochter des 9-jährigen Jungen geht seinen Weg, schreibt dieses Buch und versucht ihm die Erinnerung wiederzugeben mit diesem Buch.
Ein herzzerreißendes Buch, geschrieben für alle, die Flucht kennen, durch eigenes Erleben oder durch das Erbe ihrer Väter und Mütter. Geschrieben aber auch für alle, die nicht verstehen, was Flucht mit den Menschen macht. Was es macht, wenn man fortmuss von einem Tag auf den andern, weil Gefahr droht für Leib und Leben. Weil ein Krieg einen zwingt. Weil die Politik einen zwingt. Was man unwiederbringlich verliert. Die Kindheit, die Jugend, die Freude, die Heimat. Gestern waren es wir, heute sind es die Menschen aus der Ukraine.
EE, 09.03.2022
Link zum Buchtitel im Webshop der Buchhandlung Gastl:
Alles was wir nicht erinnern. Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters.
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