Vladimir Sorokin »Die rote Pyramide«
Gestern Abend hat der russische Außenminister Sergej Lawrow der staunenden Weltöffentlichkeit verkündigt, dass »wir die Ukraine nicht angegriffen haben«. Angesichts der Bilder aus der Ukraine kann man das kaum aushalten. Es ist ja nicht mehr nur das propagandistische Narrativ von der »militärischen Operation« und auch nicht nur der Ausdruck offenkundiger Machtlosigkeit dieses Außenministers, der im Kreml-Regime nichts mehr zu sagen hat. Es ist surreal – gegenüber einer Realität der Gewalt und des Schreckens.
Zurzeit lese ich von Vladimir Sorokin »Die rote Pyramide« und andere Erzählungen (Kiepenheuer & Wisch 2022). Vladimir Sorokin (geb. 1955) ist russischer Schriftsteller und Dramatiker – und schon seit vielen Jahren in der Opposition zum Putin-Regime und seit Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine Gegner dieser Invasion. Bereits am 26.02. veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung von ihm den Artikel »Putin ist geliefert« (Link: https://www.sueddeutsche.de/kultur/wladimir-sorokin-gastbeitrag-putin-1.5536912). Darin schreibt er: »›Unter Putin hat sich Russland von den Knien erhoben!‹, hört man seine Anhänger gern sagen. Sollte sich Russland tatsächlich von den Knien erhoben haben, so beliebte jemand zu scherzen, dann war es jedenfalls schnell wieder auf allen vieren, geknechtet von Korruption, Autoritarismus, Behördenwillkür, Elend. – Und Krieg, darf man jetzt hinzufügen.«
In seinen Erzählungen bringt Vladimir Sorokin die Surrealität ins Bild, der wir gestern Abend ansichtig wurden. Zum Beispiel in der Erzählung »Der Fingernagel« (aus dem Jahr 2018). Darin zerstreitet sich eine abendliche Gesellschaft (Es gibt Zander im Blätterteig, Saziwi sowie Wallnustorte und Schokoküsse. Getrunken wird süßer Sekt, Starka und Tvishi.) über die Frage, ob es zur Hygiene gehört, Klopapier zu haben und zu nutzen. Die Gastgeberin jedenfalls hat kein Klopapier im Haus und hält dies für überflüssig. Ihren Gästen empfiehlt sie: »Dann nehmen Sie halt die Finger.« Über diese Frage gerät man in einen heftigen Streit. »›Einigt euch friedlich, sonst einigen wir euch mit Gewalt‹, rief Herr Semjonow«, einer der Gäste. Das Ganze ist schräg und die Kontroverse noch schräger. Surreal ist die Situation – und deswegen voller Aggression mit hohem Eskalationspotential.
Bietet diese Erzählung einen realistischen Blick in die gegenwärtige russische Gesellschaft, dann stehen in diesem Land »alle gegen alle« in wechselseitig surrealen Welten. Dass sich in diesem Land Aggressionen aufstauen, wäre dann hochplausibel – und ebenso plausibel, dass sich diese Aggression nun nach außen gegen das »Brudervolk« in der Ukraine richtet. Dass dort Menschenleben und Lebensorte vernichtet werden, ist dann ebenso (un-)wichtig, wie die Frage, ob man Klopapier braucht, um den »Poloch« sauber zu halten.
Wenn das aber so wäre, dann wäre dieser Angriffskrieg wohl nicht Putins Krieg, nicht der Krieg eines einsamen und verrückten oder einen Verrückten spielenden Diktators, wie man gemeinhin sagt. Dann wäre dieser Krieg wohl doch das kollektive Projekt der in Russland lebenden Menschen, die nicht anders zusammen leben können, als ihre Aggressionen gewalttätig nach außen zu wenden. Mit solchen Gedanken im Kopf kann man die Erzählungen von Vladimir Sorokin einfach nicht lustig finden. Es gibt kein befreiendes Lachen. Und dies wird vom Autor auch nicht intendiert.
MMH, 11.03.2022
Link auf das Buch im Webshop der Buchhandlung Gastl.
Verlagshinweise
Rezension in der TAZ von Norma Schneider (»Die große russische Leere«)